Die jüdische DP-Nachkriegsgemeinde Seesen im Harz 1945–50

Briefkopf Jüdische Gemeinde Seesen/Harz | Letter head Jewish Community Seesen/Harz

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„Klein ist die jüdische Gemeinde in Seesen nach den Jahren der Verfolgung und des Hasses geworden“, schreibt die Braunschweiger Zeitung am 8. Januar 1946 anlässlich der Einweihung einer behelfsmäßigen Synagoge. Von der rund 70 Mitglieder umfassenden neuen jüdischen Gemeinde gehörten nur zwei Personen der alten deutschen Vorkriegsgemeinschaft an, alle anderen waren osteuropäische Juden. Seesen blickt auf eine lange jüdische Tradition zurück und gilt als Wiege des deutschen Reformjudentums. Initiator dieser Bewegung war vor rund 200 Jahren der Braunschweiger Hofbankier und Landrabbiner Israel Jacobson. Die nach ihm benannte Synagoge, der Seesener Jacobstempel, wurde im November 1938 zerstört, die Mitglieder der Gemeinde vertrieben und ermordet.

Einer der ersten nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus in Seesen registrierten Juden war der 1920 in Polen geborene Joseph Soski. Er hatte einen Todesmarsch vom KZ-Lager Dora Nordhausen in Richtung Bergen-Belsen überlebt. Nach der Befreiung wurden er und andere Ex-Häftlinge in einem größeren beschlagnahmten Gebäude in Seesen einquartiert und dort medizinisch sowie mit Nahrungsmitteln versorgt. Unterstützung erhielte die internationale Gruppe vom neuen, von der Militärregierung eingesetzten Bürgermeister, einem Sozialdemokraten.

Da auch mehrere polnische Kinder, deren Eltern die unmenschlichen Bedingungen während der Zwangsarbeit nicht überlebt hatten, in Seesen gestrandet waren, sorgte der polnische Medizinstudent Jan Lech in Zusammenarbeit mit den offiziellen Stellen für die Beschlagnahmung einer Villa, in der etwa 35 Kinder untergebracht werden konnten. Zudem gründeten die Ex-Häftlinge ein internationales Komitee mit Jan Lech als Vorsitzendem und Joseph Soski als Sekretär. Zwischenzeitlich wurden alle Juden aus der bereits erwähnten Notunterkunft in reguläre Unterkünfte umquartiert. Dabei handelte es sich um Wohnungen von Nationalsozialisten. Die jüdischen DPs schlossen sich nun auch in einem eigenen jüdischen Komitee zusammen, der „Jewish Community Seesen“, das in der Jacobsonstraße 22 residierte. Wer die Gemeinde im ersten Jahr zunächst leitete, ist nicht überliefert. Möglicherweise war es der 1890 in Niedersachsen geborene Henri Nussbaum, da er als Vertreter Seesens bei der im Juli 1946 anberaumten Delegiertenversammlung des „Jüdischen Komitees im Lande Braunschweig“ in den Vorstand des Landeskomitees gewählt wurde. Dieses Gremium bestand aus neun Mitgliedern, jeweils drei aus Braunschweig und Goslar sowie je einem Vertreter aus Seesen, Harzburg und dem Bezirk Hildesheim. Die Aufgabe dieser regionalen Interessenvertretung war die „Betreuung der Juden in kultureller und materieller Hinsicht“ – in enger Zusammenarbeit mit dem örtlichen Repräsentanten der britisch-jüdischen Hilfsorganisation Jewish Relief Unit. Zudem wollte man sich einen genauen Überblick hinsichtlich der Mitgliederzahlen der einzelnen jüdischen Gemeinschaften im Land Braunschweig verschaffen. Bei der nächsten Sitzung sollten daher aktuelle Personenlisten vorgelegt werden.

Nach Angaben des „Historischen Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen“ lebten in der Nachkriegszeit „60 bis 80 fast ausschließlich osteuropäische Juden“ in Seesen. Genauere Zahlen liegen erst im Sommer 1947 vor. Im Juli meldete der Vorsitzende Moshe Teitel der Jewish Relief Unit, dass der Seesener Gemeinde 16 Männer, 18 Frauen und fünf Kinder angehören. Moshe Teitel und seine Kollegen Israel Czarnucha und Samuel German waren bei den Wahlen im März 1947 in den Vorstand der Gemeinde gewählt worden. Teitel wurde auch bei der Wahl im Januar 1948 als Vorsitzender bestätigt, überließ dieses Amt jedoch nur einen Monat später dem 1904 in Krakau geborenen Joachim Freylich-Kurzenski.

Im Juli 1948 gehörten der jüdischen Gemeinschaft in Seesen 40 Personen an. Zehn davon waren jedoch schon für die Übersiedlung nach Israel registriert. Durch weitere Abgänge sowohl in deutsche Städte, wie etwa von Freylich-Kurzenski, der nach Aschaffenburg verzog, schrumpfte die Gemeinde im Februar 1949 auf 26 Personen, davon vier Kinder, wobei eines in Seesen geboren worden war. Mit dem Rückgang der Mitglieder wechselte auch der Vorstand. Ab Herbst 1949 hatte nun wieder Henri Nussbaum das Amt inne. Seine Gemeinde zählte nun lediglich 14 erwachsene Mitglieder und 4 Kinder – darunter fünf deutsche Juden. Viele osteuropäischen Shoa-Überlebende hatten Seesen bereits den Rücken gekehrt. „Vier Familien mit zwei Kindern werden in diesen Tagen Seesen verlassen“, schrieb die Braunschweiger Zeitung im Februar 1949. „Andere werden folgen“, denn an „Deutschland banden sie keine Heimatgefühle“ mehr, „nur eine böse Erinnerung, die sie nicht vergessen können, die sie um ihrer toten Angehörigen nicht vergessen wollen.“ Der neu entstandene jüdische Staat war ihre einzige Hoffnung. Für die wenigen deutschen Juden war Israel jedoch keine Alternative. Sie wollten eher in andere europäische Staaten oder nach Nordamerika. Doch nicht wenige scheuten einen Neuanfang in der Emigration, sei es wegen mangelnder Sprachkenntnisse, dem Alter oder Krankheit. Sie mussten notgedrungen wie etwa Henri Nussbaum und seine Frau Martha, im Land der Täter bleiben. Die jüdische Nachkriegsgemeinde Seesen löste sich vermutlich Anfang der 1950er Jahre auf. – (jgt)

The Jewish DP post-war community of Seesen in the Harz Mountains 1945-50

„The Jewish community in Seesen has diminished after the years of persecution and hatred,“ the Braunschweiger Zeitung wrote on January 8, 1946, on the occasion of the official opening of a provisional synagogue. Of the new Jewish community of about 70 members, only two people belonged to the old pre-war German one; all the others were Eastern European Jews. Seesen looks back on a long Jewish tradition and is seen as the cradle of German Reform Judaism. The initiator of this movement some 200 years ago was the Braunschweig royal banker and country rabbi Israel Jacobson. The synagogue named after him, the Jacobstempel in Seesen, was destroyed in November 1938, and the members of the community were expelled and murdered.

One of the first Jews registered in Seesen after the defeat of National Socialism was Joseph Soski, born in Poland in 1920. He had survived a death march from the Dora Nordhausen concentration camp in the direction of Bergen-Belsen. After liberation, he and other ex-prisoners were quartered in a larger requisitioned building in Seesen, where they were provided with medical care and food. The international group received support from the new mayor appointed by the military government, a Social Democrat.

Several Polish children were also stranded in Seesen, whose parents had not survived the inhumane conditions during forced labour. Because of this, the Polish medical student Jan Lech, in cooperation with the official authorities, arranged for the requisitioning of a villa in which about 35 children could be accommodated. In addition to this, the ex-prisoners established an international committee with Jan Lech as chairman and Joseph Soski as secretary. In the meantime, all the Jews were relocated from that emergency shelter to regular housing. These were apartments which had belonged to National Socialists. The Jewish DPs now also joined together in their own Jewish committee, the „Jewish Community Seesen,“ which resided at Jacobsonstraße 22. Whoever it was who initially led the community in the first year has not been passed on. It is possible that it was Henri Nussbaum, who was born in Lower Saxony in 1890, since he was elected to the board of the state committee as Seesen’s representative at the delegates‘ meeting of the „Jewish Committee in the State of Brunswick,” held in July 1946. This committee consisted of nine members, three from Braunschweig and from Goslar, and one representative each from Seesen, Harzburg and the Hildesheim district. The task of this regional interest group was to „look after the Jews culturally and materially“ – in close cooperation with the local representative of the British-Jewish aid organisation Jewish Relief Unit. In addition to this, their aim was to obtain a precise overview of the membership figures of the individual Jewish communities in the state of Braunschweig. Up-to-date lists of persons were thus to be presented at the next meeting.

According to the „Historical Handbook of the Jewish Communities in Lower Saxony and Bremen“, „60 to 80 almost exclusively Eastern European Jews“ lived in Seesen during the post-war period. More precise figures were not available until the summer of 1947. In July, chairman Moshe Teitel reported to the Jewish Relief Unit that the Seesen community comprised 16 men, 18 women and five children. Moshe Teitel and his colleagues Israel Czarnucha and Samuel German had been elected to the congregation’s board in the March 1947 elections. Teitel was also confirmed as chairman in the January 1948 election, but left this office only a month later to Joachim Freylich-Kurzenski, born in Krakow in 1904.

In July 1948, 40 people belonged to the Jewish community in Seesen. Ten of them, however, were already registered for emigration to Israel. Due to further departures, also to German cities, such as Freylich-Kurzenski, who moved to Aschaffenburg, the community shrank to 26 people in February 1949. Four of those were children, one of them born in Seesen. With the decline in numbers, the board of directors also changed. From the autumn of 1949, Henri Nussbaum once again held office. His congregation now numbered only 14 adult members and 4 children – including five German Jews. Many Eastern European Shoa survivors had already turned their backs on Seesen. „Four families with two children will leave Seesen in the next few days,“ wrote the Braunschweiger Zeitung in February 1949. „Others will follow,“ because „Germany no longer holds any feelings of home for them,“ „only a bad memory which they cannot forget, which they do not want to forget for the sake of their dead relatives.“ The newly formed Jewish state was their only hope. For the few German Jews, however, Israel was not an alternative. They wanted rather to go to other European states or to North America. But quite a few shied away from emigration and a new start, whether because of a lack of language skills, old age or illness. They had to remain in the country of the perpetrators out of necessity , like Henri Nussbaum and his wife Martha. The Jewish post-war community of Seesen probably broke up in the early 1950s. – (Translation: CB)

Quellen | References

Archive | Archives

  • Stadtarchiv Seesen
  • Wiener Library, London
  • US Holocaust Memorial Museum Archive
  • YIVO Institute for Jewish Research (Jewish DPs Periodicals), New York

Literatur | Literature

  • Herbert Obenaus, Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, Bd. 2, Göttingen 2005
  • Iris Helbing, Polens verlorene Kinder. Die Suche und Repatriierung verschleppter polnischer Kinder nach 1945, Diss. Universität Viadrina Frankfurt (Oder) 2015

Lexikoneintrag | Lexicon entry

Seesen – Jüdisches DP-Gemeinde | Jewish DP Community

Letzte Aktualisierung: 15.11.2021