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Am 30. März 1945 mussten zirka 800 jüdische Zwangsarbeiterinnen – Polinnen, Ungarinnen und Tschechoslowakinnen – das Lager der Lippstädter Eisen- und Metallwerke (Lippstadt, LK Soest), ein Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald, verlassen. Durch einen „Evakuierungsmarsch“ in das Konzentrationslager Bergen-Belsen wollte die SS die Befreiung der Frauen durch die herannahenden amerikanischen Truppen verhindern. Doch zwei Tage später, in den frühen Morgenstunden des 1. April, des Ostersonntags, erreichten die Amerikaner die Gruppe kurz vor dem Dorf Kaunitz (jetzt ein Stadtteil von Verl) und die Frauen waren frei.
Um sie gemeinsam unterzubringen, beschlagnahmten die amerikanischen Einheiten unmittelbar nach dem Zusammentreffen Häuser und Wohnungen in Kaunitz, darunter das Pfarr- und das Küsterhaus, die Dorfschule sowie die Spar- und Darlehnskasse. So entstand von einem Moment auf den anderen, behelfsmäßig, ein Assembly Center für jüdische Verschleppte, das Displaced Persons (DP) Camp Kaunitz. (In den Akten wird der Begriff DP Camp benutzt, obwohl es sich um eine DP Gemeinde handelte.) Da der Ort zur britischen Besatzungszone gehörte, übernahm ab Sommer 1945 die britische Militärregierung die Verwaltung.
In den ersten Tagen seines Bestehens wuchs das Assembly Center durch den Zustrom weiterer befreiter Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter sowie Kriegsgefangener aus dem nahegelegenen Stalag-Lager Senne auf 1200 Menschen an. Viele von ihnen blieben jedoch nur kurze Zeit. Die am 1. April befreiten Ungarinnen und Tschecheslowakinnen kehrten auf ihren eigenen Wunsch bereits im Sommer 1945 in ihre Heimatländer zurück. Es waren hauptsächlich die Polinnen sowie Frauen und Männer aus weiteren osteuropäischen Staaten, deren Heimat nun in den sowjetischen Machtbereich gefallen waren, die in Kaunitz ausharrten. Sie waren über die neuen politischen Verhältnisse in ihren Ländern verunsichert und wollten nicht zurück. Der Staat Israel existierte 1945 noch nicht und die britische Mandatsmacht ließ nur wenige jüdische Überlebende nach Palästina einreisen, wie beispielsweise 27 DPs aus Kaunitz. Die kleine Gruppe machte sich am 2. Juni 1947 auf den Weg ins „Palestine Transit Camp Bocholt“, von wo es über Frankreich mit dem Schiff nach Erez Israel ging. Auch die klassischen Emigrationsländer wie die USA, Kanada und Australien nahmen zunächst nur eine begrenzte Zahl von Auswanderungswilligen auf. Deshalb mussten auch die gut 400 in Kaunitz verbliebenen DPs über Monate und Jahre in Deutschland auf eine neue Heimat warten. Inzwischen fanden sich Paare, erste Kinder kamen in Kaunitz zur Welt.
Nach der Chronik der Dorfschule Kaunitz waren 72 Häuser mit 107 deutschen Familien von der Beschlagnahme betroffen; eine „Liste der in der Ortschaft Kaunitz für die Unterbringung von Ausländern beschlagnahmten Wohnungen“ zählt 74 Hausnummern auf. Damit gab es in mehr als der Hälfte der 143 im „Anschriftenbuch des Kreises Wiedenbrück 1940“ dem Postbezirk Kaunitz zugeordneten Häuser eine Einquartierung.
Das erzwungene Zusammenleben der ausländischen DPs und der deutschen Dorfbevölkerung auf engstem Raum sorgte von Anfang an für große Spannungen. Die Einheimischen mussten zum Teil ihre Wohnungen verlassen und in Keller und Stallungen ziehen. Da im Schulgebäude das Jüdische Komitee seine Büros eingerichtet hatte und außerdem die Bibliothek und eine Betstube untergebracht waren, konnte auch kein geregelter Unterricht für die deutschen Kinder stattfinden.
Die britische Lagerleitung der Jewish Relief Unit (JRU), die seit dem April 1946 in Kaunitz eingesetzt war, bemühte sich gemeinsam mit dem gewählten siebenköpfigen „Jewish Camp Committee“ um die Organisation des Alltagslebens. Lebensmittellieferungen und andere wichtige Versorgungsleistungen erfolgten durch die United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA), ab Mitte 1947 durch die Nachfolgeorganisation International Refugee Organization (IRO) sowie durch verschiedene jüdische Hilfsorganisationen. Dazu gehörte auch, Ausbildungsmöglichkeiten zu schaffen. Im Frühjahr 1946 gelang es der JRU, zwei Nähmaschinen zu organisieren. Da vor Ort genügend Altkleider vorhanden waren, wurden diese „gewaschen und zum Ausbessern verwendet. Wir haben keinen Zweifel daran, dass unsere Leute erfinderisch genug sind, um aus praktisch Nichts attraktive Kleidung herzustellen“, stellte ein JRU-Mitarbeiter in einem Report fest. Später wurden mit Unterstützung der internationalen „Organization for Rehabilitation through Training“ (ORT) zwei Schneider-Ausbildungslehrgänge angeboten, an denen im Mai 1948 41 Schüler und Schülerinnen teilnahmen. Zudem wurden hebräische Sprachkurse angeboten.
Das Lagerkomitee veranstaltete auch Tanz- sowie Kinoabende und organisierte kulturelle Aufführungen. Am ersten Jahrestag der Befreiung versammelten sich die DPs zu einer Demonstration und anschließender Kundgebung in der Dorfmitte, bei der ein eigener jüdischer Staat in Palästina gefordert wurde. Zum Abschluss tanzte die Menge Hora, sang die Hatikwa, die zionistische Hymne, die später zur Nationalhymne Israels wurde.
In Kaunitz gründete sich auch eine Fußballmannschaft, die mit sechs Teams aus dem Camp Bergen-Belsen, Makabi Hannover, JSK Goslar, Makkabi Neustadt und Stern Hamburg in einer Liga um die Meisterschaft spielten. Hakoach Kaunitz wurde jedoch bald von den Wettkämpfen ausgeschlossen, da in ihren Reihen auch „arische Spieler“, nichtjüdische Polen, mitspielten. „Sie haben kein Recht, sich jüdischer Sportklub zu nennen“, schrieb die jiddische Zeitung Undzer Sztime.
Durch das Wiederansiedlungsprogramm der IRO, an dem sich insbesondere Staaten in Übersee wie die USA, Kanada und Australien beteiligten, und die Gründung des Staates Israel im Mai 1948 konnten die noch in Kaunitz ausharrenden DPs nach und nach Deutschland in der Hoffnung auf eine neue Heimat verlassen. Zum Ende des Jahres 1949 hob die Amtsverwaltung Verl, der die Britische Militärregierung bereits im Dezember 1947 die Verantwortung für das Lager übertragen hatte, die Beschlagnahme der letzten Häuser in Kaunitz auf – die deutsche Bevölkerung konnte ihre Wohnungen wieder in Besitz nehmen. Um die Jahreswende 1949/50 wurde das DP-Camp Kaunitz aufgelöst, es geriet jahrzehntelang in Vergessenheit. Erst durch die Initiative der Anne-Frank-Gesamtschule Gütersloh und ihrer 1993 veröffentlichten Forschungen über die Geschichte des DP-Lagers Kaunitz konnte das Schweigen durchbrochen werden. Eine ausführliche wissenschaftliche Dokumentation steht jedoch noch aus, obwohl die Quellenlage es ermöglichen würde. – (ah/jgt)
Displaced Persons Assembly Centre Kaunitz 1945-1949
On March 30, 1945, approximately 800 Jewish forced labourers – Polish, Hungarian and Czechoslovakian women – were forced to leave the Lippstadt Iron and Metalworks camp (Lippstadt, district of Soest), a sub-camp of the Buchenwald concentration camp. By organising an „evacuation march“ to the Bergen-Belsen concentration camp, the SS wanted to prevent the liberation of the women by the approaching American troops. Two days later, however, in the early hours of April 1 – Easter Sunday – the Americans reached the group just outside the village of Kaunitz (now a district of Verl) and the women were free.
In order to accommodate them together, the American troops seized houses and apartments in Kaunitz immediately after their liberation, including the parish rectory, verger’s house, village school, and the Spar- und Darlehnskasse (savings bank). So from one moment to the next a makeshift assembly centre for Jewish deportees, the Displaced Persons (DP) Camp Kaunitz, was established. (In the records the term DP Camp is used, although it was really a DP community). As the village belonged to the British occupation zone, the British military government took over its administration from the summer of 1945.
In its very first days, the Assembly Centre grew to 1200 people due to the influx of additional liberated forced labourers and prisoners of war from the nearby Senne Stalag camp. However, many of them only stayed for a short time. At their own request, the Hungarian and Czechoslovakian women liberated on April 1 returned to their home countries as early as the summer of 1945. It was mainly the Polish women, along with men and women from other Eastern European countries, whose homelands were now within the Soviet sphere of power, that held out in Kaunitz. They were unsettled by the new political situation in their countries and did not wish to return. The state of Israel did not yet exist in 1945 and the British Mandate power allowed only a few Jewish survivors to enter Palestine, such as 27 DPs from Kaunitz. On June 2, 1947, this small group set out for the „Palestine Transit Camp Bocholt,“ from where they went by ship via France to Erez Israel. The usual countries for emigration, such as the USA, Canada and Australia also only accepted a limited number of emigrants at first. This meant that the 400 DPs who remained in Kaunitz had to wait for months or years in Germany for a new home. In the meantime, couples met and the first children came into the world in Kaunitz.
According to the chronicle of the Kaunitz village school, 72 houses with 107 German families were affected by the confiscation action; a „list of dwellings taken in the village of Kaunitz for the accommodation of foreigners“ shows 74 house numbers. This was more than half of the 143 houses in the Kaunitz postal district listed in the „Address Book of the Wiedenbrück District 1940.“
This forced coexistence of the foreign DPs and the German village population within a very confined space caused great tension from the very beginning. Some of the locals had to leave their homes and move into cellars and stables. As the Jewish Committee had set up its offices in the school building, where the library and a prayer room were also housed, it was also not possible to hold regular classes for the German children.
The British camp leadership of the Jewish Relief Unit (JRU), which had been in Kaunitz since April 1946, tried to organise everyday life, together with the elected seven-member „Jewish Camp Committee“. Food deliveries and other important supplies were provided by the United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA), and from mid-1947 by its successor, the International Refugee Organization (IRO), as well as by various Jewish aid organisations. This also included creating training opportunities. In the spring of 1946, the JRU succeeded in obtaining two sewing machines. Since there were plenty of old clothes available, they „were washed and used for mending. We have no doubt that our people are inventive enough to make attractive clothing from practically nothing,“ a JRU staff member noted in a report. Later, supported by the international Organisation for Rehabilitation through Training (ORT), two training courses in tailoring were offered, with 41 students taking part in May 1948. In addition to this, Hebrew language courses were offered.
The camp committee also held dance and cinema evenings and organised cultural performances. On the first anniversary of liberation, the DPs gathered for a demonstration and subsequent rally in the centre of the village, demanding a separate Jewish state in Palestine. At the end, the crowd danced Hora and sang the Hatikva, the Zionist anthem that would later become the national anthem of Israel.
A football team was also started in Kaunitz which played for the championship in a league with six other teams from Camp Bergen-Belsen, Makabi Hannover, JSK Goslar, Makkabi Neustadt and Stern Hamburg. However, Hakoach Kaunitz was soon excluded from the competitions because their teams included „Aryan players,“ non-Jewish Poles. „They have no right to call themselves a Jewish sports club,“ wrote the Yiddish newspaper Undzer Sztime.
Due to the resettlement program of the IRO, in which overseas states such as the USA, Canada and Australia were especially involved, and the foundation of the state of Israel in May 1948, the DPs still holding out in Kaunitz were gradually able to leave Germany in the hope of finding a new home. At the end of 1949, the district administration of Verl, to which the British military government had already transferred responsibility for the camp in December 1947, lifted the confiscation measures of the last houses in Kaunitz. The German population was able to take possession of their homes again. At the turn of the year 1949/50, the DP camp Kaunitz was dissolved and was forgotten for decades. It was only through the initiative of the Anne Frank Comprehensive School in Gütersloh and its research into the history of the Kaunitz DP camp, published in 1993, that the silence was broken. Although existing source materials would enable an academic documentation, this is, however, still to be made. – (Translation: CB)
Quellen | References
Archive | Archives
- American Jewish Joint Distribution Committee Archives, New York
AR 45/54 Germany - Stadtarchiv Verl
- Wiener Library, London
- YIVO Institute for Jewish Research, New York
Displaced Persons Centers and Camps in Germany / Jewish DPs Periodicals
Literatur | Literature
- Stadt Gütersloh (Hg.), Die Kindergräber von Gütersloh. Schüler auf den Spuren jüdischer Zwangsarbeiterinnen, Gütersloh 1993
- Annette Huss, „Camp Kaunitz“. Das Lager für Displaced Persons in Kaunitz 1945–1949, in: Heimat-Jahrbuch Kreis Gütersloh 2017, S. 38–42
Lexikoneintrag | Lexicon entry
Kaunitz – Jüdische Gemeinde | Jewish Community
Letzte Aktualisierung: 07.07.2022