Der Kibbuz „Die Befreiung“ in Hannover-Ahlem

Mitglieder des DP-Kibbuz‘ auf dem Weg zur Feldarbeit – vermutlich 1947. /Members of the DP kibbutz on their way to work in the fields – probably 1947. (Quelle/Source: Gedenkstätte Ahlem – Sammlung Jehuda Merin)
For English version please scroll down

Nach einem Besuch der ehemaligen Israelitischen Gartenbauschule Ahlem im Sommer 1945 hatte ein Mitarbeiter einer Hilfsorganisation angeregt, auf diesem Gelände einen DP-Kibbuz einzurichten: „Es war ideal gelegen, und ich habe einen ziemlich umfassenden Bericht darüber verfasst, aber zu dieser Zeit war niemand daran interessiert – nicht einmal die Juden selbst“, berichtete er, „Ahlem ist absolut ideal“.

Die 1893 von dem jüdischen Bankier Moritz Simon gegründete Israelitische Gartenbauschule war über 30 Jahre eine bedeutende Ausbildungsstätte für gärtnerische und handwerkliche Berufe mit internationalem Ruf. Unter den Nationalsozialisten wurde die Schule für jüdische Kinder und Jugendliche zum zeitweiligen Schutzraum und ermöglichte vielen die Emigration. Ab 1941 nutzte die Gestapo Hannover das Gelände als Sammelstelle für Juden vor ihrer Deportation in Ghettos und Konzentrationslager. Im Herbst 1943 zog die Gestapo auf das Gelände und richtete ein Polizei-Ersatzgefängnis ein. Im März 1945 wurden in Ahlem mindestens 59 Häftlinge hingerichtet.

Vermutlich Anfang 1946 verwandelte sich der Gebäudekomplex auf dem Gebiet der damals noch selbstständigen Gemeinde Ahlem am westlichen Stadtrand Hannover in das als „Ahlem-Camp“, „Ahlem-Farm“ oder Kibbuz „Die Befreiung“ (HaSchichrur) bezeichnete DP-Lager. Betreut wurde es von dem UNRRA-Team, das auch für die jüdischen Camps in der Ohestraße und in Vinnhorst zuständig war.

Initiator war Nisan Tykocinski. Er konnte an die zehn Bewohner des DP-Camps Ohestraße überzeugen, sich am Aufbau des Kibbuz‘ in Ahlem zu beteiligen. Die meisten waren – so erinnert sich Tykocinski – ehemalige Häftlinge des KZ-Außenlagers Ahlem. Jüdische Hilfsorganisationen (ORT, Joint, Jewish Relief Unit) erklärten sich bereit, die Arbeit in Ahlem finanziell und materiell zu unterstützen. Für die landwirtschaftliche Ausbildung war die ORT zuständig.

Im Sommer 1946 zählte der Kibbuz etwa zwei Dutzend Männer und Frauen, vorwiegend junge polnische Holocaust-Überlebende im Alter von 18, 19 Jahren. Sie standen zwar in der Tradition der linkssozialistischen Jugendbewegung Haschomer Hazair (Der junge Wächter), waren an Parteipolitik aber eher uninteressierte junge Leute, die von der Idee des Zusammenlebens und des gemeinsamen Arbeitens auf freiwilliger Basis ohne Privatbesitz begeistert waren. Praktische und theoretische Ausbildung sollten auf ein Arbeitsleben in Palästina/Israel vorbereiten.

In der praktischen Arbeit wurden sie angeleitet von dem in einer „Mischehe“ lebenden jüdischen Landwirt Robert Heide. Heide war bereits Mitte 1942 als Arbeiter an die Israelitische Gartenbauschule Ahlem zwangsverpflichtet worden und wurde noch Ende Februar 1945 in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Nach seiner Rückkehr im Sommer 1945 kümmerte er sich – bezahlt aus Mitteln der ORT und unterstützt von seiner nichtjüdischen Ehefrau – um den landwirtschaftlichen Betrieb.

Als die „Pioniere“ aus der Ohestraße um den Jahreswechsel 1945/46 in Ahlem eintrafen, waren die meisten Gebäude bereits von anderen Gruppen belegt: Im ehemaligen Schulhaus wohnten hannoversche Jüdinnen und Juden, die die NS-Zeit in Ahlem überlebt hatten. In weitere Gebäude waren deutsche Flüchtlinge eingewiesen worden. Im Januar 1946 lebten etwa 400 Flüchtlinge in Ahlem. Über Konflikte zwischen den unterschiedlichen Gruppen ist nichts bekannt.

Den jungen DPs blieb das durch Bombenangriffe beschädigte ehemalige Gehilfenhaus, das von ihnen notdürftig für eine Unterbringung auf engstem Raum hergerichtet wurde. Zwölf Personen mussten sich einen Raum teilen – unter ihnen auch die vier in Ahlem getrauten Ehepaare, die ihre Schlafbereiche mit Schränken und Decken abteilten. Ein Schlafraum diente als Unterrichtsraum. Maximal konnten etwa 60 Personen aufgenommen werden. Trotz der Enge gestaltete sich das Zusammenleben harmonisch. Gemeinsames Ziel war es, in Palästina im Kollektiv zu arbeiten und zu leben.

Die Kibbuzniks arbeiteten bis in den Nachmittag in der Landwirtschaft. Abends bereiteten sie sich inhaltlich auf die Auswanderung vor. Sie lernten Hebräisch, bildeten sich in Mathematik und naturwissenschaftlichen Fächern fort und veranstalteten Diskussionsabende. Zwischen Ahlem und der jüdischen Community in der Ohestraße in Hannover bestand im Bildungsbereich eine enge Kooperation: Nisan Tykocinski kam zwei- bis dreimal die Woche nach Ahlem und erteilte in verschiedenen Fächern Unterricht. Jehuda Merin aus Ahlem übernahm den Hebräisch-Unterricht für die kleineren Kinder in der Ohestraße. Merin war bei der ersten Gruppe dabei, die in Ahlem die Pioniere des Kibbuz‘ „Befreiung“ verstärkte. Jehuda Merin und Luba Feldman waren eines der vier Paare, die in Ahlem heirateten: Am 1. Juni 1947 wurden sie vom hannoverschen Chief Rabbi Chaim Pinchas Lubinsky getraut.

Bereits im Frühjahr 1947 machte sich eine erste Gruppe Ahlemer Kibbuzniks auf den Weg nach Palästina, begleitet vom Ehepaar Nisan und Ella Tykocinski. Die zweite Gruppe verließ Ahlem um die Jahreswende 1947/48, unter ihnen Jehuda und Luba Merin. Ihr Weg führte über Celle, die Transit-Lager Bocholt und Marseille nach Palästina. Zielort war ein Kibbuz auf den damals umkämpften Golan-Höhen.

Kurzzeitig kamen noch einzelne Männer und Frauen nach Ahlem. Später gab es noch eine Neubelegung durch eine geschlossene Gruppe aus dem DP-Camp Eschwege in der amerikanischen Zone. Sie verließ Ahlem im Mai 1948. Gut zweieinhalb Jahre nach seiner Gründung wurde der Ahlemer Kibbuz geschlossen. – (Marlis Buchholz)

The kibbutz „The Liberation“ in Hanover-Ahlem

Following a visit to the former Israelite Horticultural School in Ahlem in the summer of 1945, an aid organisation employee suggested that a DP kibbutz be set up on the site: „It was ideally located, and I wrote quite a comprehensive report about it, but no one was interested at that time – not even the Jews themselves,“ he reported, „Ahlem is absolutely ideal.“

Founded in 1893 by the Jewish banker Moritz Simon, the Israelite Horticultural School had an international reputation for over 30 years as an important training centre for horticultural and craft professions. Under the National Socialists, the school became a temporary shelter for Jewish children and youths and enabled many to emigrate. From 1941 the Hanover Gestapo used the grounds as an assembly point for Jews before deportation to ghettos and concentration camps. In the autumn of 1943, the Gestapo moved onto the site and established a replacement police prison there. In March 1945, at least 59 prisoners were executed at Ahlem.

It was probably at the beginning of 1946 that the building complex on the territory of the then still independent municipality of Ahlem on the western outskirts of Hanover was transformed into the DP camp known as „Ahlem Camp,“ „Ahlem Farm“ or Kibbutz „The Liberation“ (HaSchichrur,). It was supervised by the UNRRA team which was also responsible for the Jewish camps in Ohestrasse and Vinnhorst.

Nisan Tykocinski was the initiator. He was able to convince the around ten residents of the Ohestrasse DP camp to take part in the development of the kibbutz in Ahlem. Most of them were – as Tykocinski recalls – former prisoners of the Ahlem concentration camp subcamp. Jewish relief organisations (ORT, Joint, Jewish Relief Unit) agreed to support the work in Ahlem financially and materially. ORT was responsible for agricultural training.

In the summer of 1946, the kibbutz numbered about two dozen men and women, mainly young Polish Holocaust survivors aged 18, 19. Although based in the tradition of the left-wing socialist youth movement Haschomer Hazair (The Young Watchman), they were young people less interested in party politics and more enthusiastic about the idea of living and working together on a voluntary basis without private property. Practical and theoretical training was to prepare them for working life in Palestine/Israel.

They were taught in the practical field of work by the Jewish farmer Robert Heide, who lived in a mixed marriage. Heide had already been conscripted to forced labour at the Israelite Horticultural School in Ahlem in mid-1942 and was deported to the Theresienstadt ghetto at the end of February 1945. After his return in the summer of 1945, he looked after the agricultural business – financed from ORT funds and supported by his non-Jewish wife.

When the „pioneers“ from Ohestrasse arrived in Ahlem at around the turn of the year 1945/46, most of the buildings were already occupied by other groups; Hanoverian Jews who had survived the Nazi period in Ahlem lived in the former schoolhouse and German refugees had been moved into other buildings there. In January 1946 there were about 400 refugees living in Ahlem. Nothing is known about any conflicts between the different groups.

The young DPs were left with the bomb-damaged former helpers’ quarters, where they made makeshift accommodation within a very confined space. Twelve people had to share one room – among them the four couples who had been married in Ahlem, who partitioned off their sleeping areas with cupboards and blankets. One dormitory area served as a classroom. A maximum of about 60 people could be accommodated. Despite the cramped living quarters, life together was harmonious. Their common goal was to work and live collectively in Palestine.

The kibbutzniks worked in agriculture until the afternoon. In the evenings, they prepared themselves pragmatically for emigration. They learned Hebrew, furthered their knowledge in mathematics and science, and organised discussion evenings. There was close educational cooperation between Ahlem and the Jewish community in Ohestrasse in Hanover: Nisan Tykocinski came to Ahlem two or three times a week and taught lessons in various subjects. Jehuda Merin from Ahlem took over the Hebrew lessons for the smaller children in Ohestrasse. Merin was part of the first group that supported the pioneers of the kibbutz „Liberation“ in Ahlem. Jehuda Merin and Luba Feldman were one of the four couples who got married in Ahlem: On June 1, 1947, they were married by Hanover’s Chief Rabbi Chaim Pinchas Lubinsky.

In the spring of 1947, a first group of Ahlem kibbutzniks had already set out for Palestine, accompanied by the couple Nisan and Ella Tykocinski. The second group left Ahlem at the turn of the year 1947/48, among them Jehuda and Luba Merin. Their route was via Celle, the transit camps Bocholt and Marseille to Palestine. Destination was a kibbutz on the Golan Heights, at that time a fiercely disputed battleground.

For a while individual men and women still came to Ahlem. Later it was occupied once again, by a closed group from the DP camp Eschwege in the American zone. They left Ahlem in May 1948. A good two and a half years after its foundation, the Ahlem kibbutz was closed. – (Translation: CB)

Quellen | References

Archive | Archives

  • Wiener Library, London
  • United Nations Archives, New York

Literatur | Literature

  • Anke Quast, Nach der Befreiung. Jüdische Gemeinden in Niedersachsen seit 1945 – das Beispiel Hannover, Göttingen 2001
  • Claus Füllberg-Stolberg, Ahlem als DP-Lager und Kibbuz, in: Hans-Dieter Schmid (Hg.), Ahlem – Die Geschichte einer jüdischen Gartenbauschule, Bremen 2017, S. 199–209

Lexikoneintrag | Lexicon entry

Ahlem (Hannover) – Kibbuz HaSchichrur | Kibbutz HaSchichrur (Befreiung/Liberation)

Letzte Aktualisierung: 19.04.2022